„Selbst in Märkten wie dem Online-Handel gibt es noch Platz in der Nische“

Holger Schmidt, Digital Economist und einer der bekanntesten Experten zum Thema Plattformökonomie in Europa, spricht im Interview über die Chancen, neue Plattformen zu etablieren, die hohen Risiken bei der Gründung und Fairness als wichtigen Grundpfeiler.

Interview: Stephan Scoppetta

Holger Schmidt, Digital Economist

Plattformökonomie ist eines der neuen Zauberworte in der Wirtschaft. Dabei konzentrieren sich Plattformen auf die Interaktionen zwischen Produzenten und Konsumenten. Es gibt bereits zahlreiche Plattformen wie Amazon, Uber & Co – ist hier noch Platz für neue Anbieter?
Holger Schmidt:
Aktuell gibt es rund 1.500 Plattformen weltweit, darunter nur gut 100, die als modern oder hochentwickelt gelten. Es gibt also durchaus Platz für neue Plattformen. Märkte wie Gesundheit, Bildung, Mobilität, Immobilien, Energie oder B2B stehen noch ganz am Anfang der Plattformwelle. Und selbst in Märkten wie dem Online-Handel, wo schon einige moderne Plattformen am Start sind, gibt es sicher noch Platz in der Nische. Denn die Annahme des „Winner takes it all“ trifft oft genug nicht zu. Vielfach etabliert sich eine Handvoll Plattformen am Markt, die sich je nach Region auch unterscheiden.

Wie haben sich die Plattformen in den vergangenen Jahrzehnten verändert?
Prinzipiell lassen sich bis heute vier Plattformgenerationen unterscheiden: von der ersten Generation, den einfachen Marktplätzen ohne besondere Intelligenz, über die Sharing Economy als zweite Generation hin zur heute üblichen dritten Generation der Plattformen, die sehr intensiv in Ökosysteme investiert haben und Daten für neue Monetarisierungsoptionen nutzen. Die ganz modernen Plattformen der vierten Generation setzen darüber hinaus künstliche Intelligenz und Datenökonomie in hohem Maße ein und holen als inverse Unternehmen vielfach Innovationen von außen auf die Plattform. Von diesen ganz modernen Plattformen gibt es aber nur eine Handvoll. Amazon, Alibaba oder die TikTok-Muttergesellschaft ByteDance gehören dazu.

Aktuell gibt es rund 1.500 Plattformen weltweit, darunter nur gut 100, die als modern oder hochentwickelt gelten. Es gibt also durchaus Platz für neue Plattformen.

In welchen Bereichen der Plattformökonomie sehen Sie noch großes Potenzial?
Besonders spannende Plattformmärkte sind aktuell Mobilität und Finanzen. In diese Märkte fließt auch das meiste Risikokapital. Auch Bildung, Energie und Gesundheit weisen hohes Potenzial auf. B2B wird immer gerne als große Chance für Europa genannt, aber hier haben die Asiaten schon lange die Nase vorne.

Die operative Marge der Plattformgeschäftsmodelle liegt im Durchschnitt bei rund 20 %, während klassische Modelle zwischen 2 % und 8 % liegen. Wie lässt sich das erklären? 
Plattformen investieren seltener in eigene Assets und konzentrieren sich mehr auf ihre Rolle als Interaktionsmanager zwischen Angebot und Nachfrage. Insofern liegt es in der DNA ihres Geschäftsmodells, höhere Margen als klassische Produzenten zu erzielen. Was aber nicht heißt, dass Plattformen nicht selbst investieren. Oft dauern die Investitionsphasen für den Aufbau der Ökosysteme viele Jahre, bevor die Gewinne wirklich sprudeln. Das lässt sich sehr schön an Amazon ablesen. Im Plattformindex zeigt sich die Überlegenheit der Plattformmodelle an den Börsen schon seit fünf Jahren sehr deutlich.

Plattformen sind sehr komplex im Aufbau. Auch deswegen sind zuletzt viele von ihnen wieder verschwunden. Was sind die Herausforderungen, die es beim Aufbau zu bewältigen gilt? 
Plattformen sind ein komplexes Geschäftsmodell. In der frühen Phase scheitern sie häufig daran, genügend Traktion und Wachstum zu erreichen. Im weiteren Verlauf fällt der Bau der Ökosysteme zur Erweiterung des Kernmarktes oft schwer. Inzwischen gibt es aber genügend Methoden, um beide kritischen Phasen zu meistern. Und natürlich gehört eine hohe Risikobereitschaft dazu, die langen Anlaufphasen, die mehrere Jahre dauern können, durchzufinanzieren. Diese Bereitschaft ist vor allem in Europa zu selten anzutreffen.

Klassische Weltmarktführer haben oft Schwierigkeiten, solche Modelle aufzubauen. Sieben von acht Plattformen werden von neuen, branchenfremden Unternehmen ins Leben gerufen. Was ist die Ursache dafür, dass sich etablierte Firmen mit diesem Thema so schwertun? 
Klassische lineare Unternehmen tun sich schwer, ihr „altes“ Geschäftsmodell gegen ein neues einzutauschen. Das ist natürlich ein großer Schritt, dem viele liebgewordene Traditionen zum Opfer fallen (müssen). Aber es gibt Beispiele für erfolgreiche Transformationen: Ping An, der chinesische Versicherer, hat es geschafft. Auch Walmart oder Nike sind auf guten Wegen. In Deutschland geht Otto gerade diesen Weg vom Händler zur Plattform.

Plattformen werden oft auch dafür kritisiert, dass sie letztendlich – sofern sie zu einer gewissen Marktmacht gekommen sind – einen enormen Preisdruck auf die Produzenten ausüben und damit auch viele in den Ruin treiben. Ist dieser Vorwurf für Sie nachvollziehbar? 
Plattformen versuchen natürlich, einen möglichst großen Teil der Wertschöpfung an sich zu ziehen. Das tut jedes Unternehmen. Wer die preisunelastische Seite des Marktes (in der Regel die Produzenten) aber zu hart anpackt, muss damit rechnen, dass sich diese Produzenten von der Plattform zurückziehen – und damit das Modell gefährden. Viele Plattformen haben aber inzwischen verstanden, dass eine faire Kooperation am Ende das beste Ergebnis für alle Beteiligten bringt.

Brauchen Plattformen mehr Regulierung, oder gilt hier das freie Spiel der Kräfte? 
Die Regulierung ist weltweit in Gang gekommen – und das ist auch gut so. Intelligente Regulierer zerstören aber nicht die Vorteile des Geschäftsmodells, sondern sorgen für Fairness. Indem sie dafür sorgen, dass Plattformen ihre Positionen nicht ausnutzen, ihre eigenen Produkte nicht bevorzugen oder den Wettbewerb behindern. Hier sind wir auf einem guten Weg, zum Beispiel mit dem Digital Markets Act in Europa.

Wie werden Plattformunternehmen die Zukunft verändern? 
Da Plattformen klassischen Unternehmen überlegen sind, werden sich die meisten Märkte nach und nach in diese Richtung verändern. Dies führt zu einer höheren Konzentration und zu einem schärferen Wettbewerb zwischen den besten Plattformmodellen. Wettbewerb und auch Wettbewerbspolitik werden sich dadurch deutlich verschieben. Insgesamt fördern Plattformen das Wachstum, da viele Märkte erst mit einer Plattform in Schwung kommen. Denken Sie an Airbnb. Einen Wohnungsmarkt dieser Art gab es vorher nicht. Heute ist es ein Milliardenmarkt.