Hilfe: Mitarbeiter verzweifelt gesucht

Der Arbeitsmarkt hat sich komplett gewandelt. Längst müssen sich Unternehmen bei potenziellen Mitarbeitern bewerben – und nicht mehr umgekehrt. Um Talente anzuziehen und auch längerfristig zu binden, müssen Unternehmen ihr Mindset grundlegend ändern, und zwar rasch.

Text: Markus Mittermüller

„Früher konnte man eine Stellenanzeige aufgeben und auf geeignete Bewerber einfach warten. Wir haben manchmal hunderte Bewerbungen erhalten und konnten aus dem Vollen schöpfen“, erinnert sich Ulrike Baumgartner-Foisner. Sie ist als Senior Vice President für Organisationsentwicklung und Human Resources beim Ziegelhersteller Wienerberger verantwortlich. Heute ist diese Situation auf den Kopf gestellt. „Derzeit suchen wir allein in Österreich rund 80 Mitarbeiter. Es mangelt nicht nur an Fachkräften, sondern ganz allgemein an Arbeitskräften in allen Bereichen. Und das nicht nur in Österreich, sondern in ganz Europa“, wie Baumgartner-Foisner betont, die die Personalverantwortung für insgesamt 19.000 Mitarbeiter an über 200 Standorten in 28 Ländern trägt.

Klar ist auch: Die Situation wird sich weiter verschärfen, und die Bewerber werden unter einer Vielzahl an Arbeitgebern wählen können. „Bis zum Jahr 2029 werden wir den Höhepunkt dieser Entwicklung erleben, da gehen die Jahrgänge 1964 und 1965 der Babyboomer-Generation in Pension. In Österreich wird dadurch eine Lücke am Arbeitsmarkt von 70.000 Personen entstehen“, prognostiziert Employee-Experience-Experte Max Lammer. Fünf Aspekte müssen Unternehmen jetzt beachten, um überhaupt noch qualifizierte Mitarbeiter zu finden und Bewerber anzuziehen.

Binden statt finden.

„Die große Aufgabe ist nicht das Finden, sondern das Binden der Mitarbeiter“, ist Lammer überzeugt. Die Rechnung ist einfach: Wer große Fluktuation verhindern kann, muss klarerweise weniger neue Mitarbeiter suchen. Entscheidend für eine bessere Mitarbeiterbindung sei laut Lammer die Employee Experience: „Dabei muss das Unternehmen die ‚moments that matter‘ herausfinden und aktiv gestalten. Die wichtigste Frage ist nämlich, wie Mitarbeiter ihren Job täglich erleben.“ Wichtige Momente sind beispielsweise der erste Arbeitstag, Mitarbeitergespräche, die Karriereplanung, aber auch der Austritt aus dem Unternehmen. „Wenn die Experience beim Verlassen des Unternehmens genauso gut ist wie beim Eintritt, dann besteht die Chance, dass ehemalige Mitarbeiter später auch wieder zum Unternehmen zurückkehren“, sagt Lammer. Wie ein idealer erster Arbeitstag aussehen könnte? „Wichtig ist, dass er gut strukturiert ist, die Führungskraft anwesend ist und die Kollegen Zeit für ein gemeinsames Mittagessen haben. Wer entscheidende Momente wie diese gut gestaltet, hat eine fünfmal höhere Wahrscheinlichkeit, seine Mitarbeiter langfristig zu halten“, betont der Experte.

New-Work-Experimente.

New Work fällt als Stichwort oft dann, wenn es darum geht, als Unternehmen vor allem für die junge Generation attraktiv zu werden. Gemeint ist damit der strukturelle Wandel in unserer Arbeitswelt. „New Work ist ein Mindset-Change, bei dem es darum geht, zu experimentieren und neue Dinge auszuprobieren“, sagt Lena Marie Glaser. Sie ist New-Work-Expertin, Unternehmensberaterin und Gründerin von Basically Innovative. In ihrem aktuellen Buch „Arbeit auf Augenhöhe“ beschäftigt sie sich mit der Frage, wie wir neue Wege wagen und die Arbeit der Zukunft solidarisch gestalten können – mit dem klaren Ziel, Mitarbeiter zu gewinnen und auch halten zu können. „New Work bedeutet flexibles Arbeiten nach den eigenen Bedürfnissen, die Arbeit muss einfach zur eigenen Lebenssituation passen. Wichtig dabei ist, dass sich die Mitarbeiter selbst mit ihren Ideen einbringen können und dies auch von der Geschäftsführung gehört wird“, so Glaser.

Dabei geht es zum Beispiel um Themen wie die 4-Tage-Woche, Work-Life-Balance und hybrides Arbeiten. „Eine Standardlösung gibt es jedoch nicht. „Ich rate Unternehmen, zuerst eine erste Standortbestimmung zu machen: Wo stehen wir als Arbeitgeber am Markt, was zeichnet uns aus, wo liegen unsere Stärken und Schwächen? So wird oft erst sichtbar, dass es bereits innovative Ansätze gibt – diese sind weiterzuentwickeln, von der Geschäftsleitung mit den Mitarbeitern gemeinsam“, so Glaser.

Talent Acquisition – die neue Aufgabe für Personalisten.

Der gesamte Recruiting-Prozess muss anders ausgerichtet werden, kein Bewerber wird mehr zwei Wochen auf die Antwort eines Recruiters warten.

Eine noch größere Bedeutung bei der Mitarbeitersuche kommt in Zukunft auf die HR-Abteilung der Unternehmen zu. Die Personalisten werden künftig wie Headhunter agieren und Talente direkt ansprechen, ist Baumgartner-Foisner überzeugt: „Der gesamte Recruiting-Prozess muss anders ausgerichtet werden, kein Bewerber wird mehr zwei Wochen auf die Antwort eines Recruiters warten. Das bedeutet, dass die Recruiter mit deutlich mehr Ressourcen ausgestattet werden und mit moderneren Methoden und Tools arbeiten müssen.“ Damit einher gehen auch Initiativen zur Verbesserung der Mitarbeiterkommunikation und zur Steigerung der Bekanntheit der eigenen Marke. Stark nachgefragt sind bei Wienerberger beispielsweise die Benefits, die das Unternehmen bietet. Seit 2019 haben die Mitarbeiter die Möglichkeit, sich über eine Privatstiftung am Unternehmen zu beteiligen und somit vom Erfolg des Unternehmens zu profitieren. „Wichtig sind ebenfalls die Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten. Bei uns ist es wirklich noch möglich, international Karriere zu machen, auch über Department-Grenzen hinweg“, erklärt Baumgartner-Foisner.

Führung neu gedacht.

Es werden jene Unternehmen zukünftig erfolgreich sein und bleiben, denen es gelingt, Mitarbeitende besser zu halten als anderen Firmen.

Eine Gallup-Studie aus dem Vorjahr zeigt alarmierende Ergebnisse: 42 % der deutschen Arbeitnehmer geben an, ihren Arbeitgeber wechseln zu wollen. Die Bereitschaft zum Jobwechsel war noch nie so hoch wie derzeit. „Es werden jene Unternehmen zukünftig erfolgreich sein und bleiben, denen es gelingt, Mitarbeitende besser zu halten als anderen Firmen“, sagt Lammer. Es gibt eine Schlüsselfigur, die nicht nur diese Fluktuation verhindern kann, sondern auch eine zentrale Rolle bei New-Work-Innovationen einnimmt: die Führungskraft. „Sie muss mit Vertrauen den Rahmen schaffen, damit die Personen selbstbestimmt arbeiten können. Überhaupt muss Führung völlig neu gedacht werden“, sagt Glaser. Das hierarchische Top-down habe ausgedient, der Chef wird zum Mentor und Coach. Eine Entwicklung, die vielen Führungskräften schwerfallen wird. Denn häufig mangelt es an Trainings und Weiterbildungen für die Chefs selbst. „Führungskräfte sind oft sehr gute technische Experten, Empathie und andere Führungsqualitäten spielen bei der Auswahl nur eine untergeordnete Rolle. Talente zu gewinnen ist die eine Sache, aber nur mit guter Führung wird es gelingen, diese Talente auch mittelfristig zu halten und sie zu befähigen, ihr Potenzial voll zu entfalten“, meint Baumgartner-Foisner.

Bleiben noch die aktuellen Trends wie die 4-Tage-Woche oder die Debatte um das Thema unbegrenzter Urlaub. Sind sie ein adäquates Mittel, um neue Mitarbeiter anzusprechen? „Diese Trends manifestieren sich und werden eine Zeitlang sicherlich ein Magnet sein. Aber es wird zum Standard werden, nahezu jedes Unternehmen wird es anbieten“, prognostiziert Lammer. Der Effekt: Die Mitarbeiter gewöhnen sich sehr schnell daran. Für Unternehmen, die auch künftig im „War for Talents“ reüssieren wollen, bedeutet das, sich schleunigst von alten Gewohnheiten zu verabschieden und sich auf innovative Experimente einzulassen.