Wo bleibt die Moral in der Supply Chain?

Mit einem Lieferkettengesetz sagt die EU Menschenrechtsverletzungen und Umweltsünden in globalen Versorgungsketten den Kampf an. 

Text: Raimund Lang

Dem bekannten Werbeslogan einer österreichischen Körperschaft zufolge geht es uns allen dann gut, wenn es auch der Wirtschaft gut geht. Die Plausibilität, die dieser Spruch auf nationaler Ebene für sich in Anspruch nehmen kann, verliert an Überzeugungskraft, je weiter man über die Landesgrenzen hinwegsieht. Denn es ist kein Geheimnis, dass es in etlichen Ländern Kinderarbeit gibt; dass ein mit europäischen Standards vergleichbarer Arbeitnehmerschutz dort die Ausnahme darstellt und dass die Natur in diesen Staaten oftmals ohne jedes Augenmaß ausgebeutet wird. Es ist leider kein antikapitalistischer Mythos, sondern Realität, dass europäische Unternehmen und Konsumenten zuweilen direkt oder indirekt von diesen Zuständen profitieren. Tiefe, Breite und Komplexität von Versorgungsketten in der globalisierten Welt schaffen Raum für fragwürdige Praktiken, die man aus der Distanz oft nicht sehen kann oder nicht sehen will.

Verhaltenskodex.

Geht es nach der Europäischen Union, soll damit Schluss sein. Mit der Einführung eines Lieferkettengesetzes will sie Unternehmen dazu verpflichten, ihre Lieferketten daraufhin zu untersuchen, ob alles mit rechten Dingen zugeht, und falls das nicht der Fall ist, allfällige Mängel zu beseitigen. Im Februar dieses Jahres hat die Europäische Kommission einen Vorschlag für eine diesbezügliche Richtlinie angenommen. Zur Umsetzung der Sorgfaltspflichten stehen drei Elemente im Zentrum: die Ermittlung, die Vermeidung und die Behebung von potenziellen oder tatsächlichen negativen Auswirkungen auf Menschenrechte und Umwelt. Dafür ist unter anderem ein Verhaltenskodex zu formulieren, der Regeln und Grundsätze enthält, wie das Unternehmen zu agieren hat. Weiters müssen Verfahren entwickelt werden, welche die Einhaltung der Sorgfaltspflichten garantieren sowie den Nachweis der Einhaltung ermöglichen. Von Geschäftspartnern ist die vertragliche Zusicherung einzuholen, dass diese sich ebenfalls an den Verhaltenskodex halten. Außerdem ist eine Möglichkeit zu schaffen, dass von negativen Auswirkungen betroffene Personen und Organisationen Beschwerden an das Unternehmen richten können. Zusätzlich muss die Wirksamkeit aller ergriffenen Maßnahmen überwacht und die Wahrnehmung der Sorgfaltspflichten öffentlich kommuniziert werden. 

Einklagbar.

Die vorgesehenen Sorgfaltspflichten sollen für alle europäischen Unternehmen mit mindestens 500 Mitarbeitern und einem (weltweit erwirtschafteten) Nettoumsatz von mindestens 150 Millionen Euro gelten. Für Unternehmen in Branchen „mit hohem Schadenspotenzial“ (zum Beispiel Textilindustrie, Land- und Forstwirtschaft oder Fischerei) gelten bereits 250 Mitarbeiter bzw. 40 Millionen Euro Nettoumsatz als Grenzwerte. KMU sind explizit von den Verpflichtungen ausgenommen. Bei Nichteinhalten der Regeln sollen die jeweils national zuständigen Stellen von den Unternehmen ein Bußgeld einheben können. Weiters ist vorgesehen, dass die Länder die Voraussetzungen für zivilrechtliche Klagen gegen Unternehmen schaffen. So könnten beispielsweise die Opfer von Kinderarbeit, Menschenhandel oder allgemein nachteiligen Auswirkungen unternehmerischen Handelns Schadenersatz einklagen.

Nationale Gesetze.

Denn de facto haben Unternehmen, die bereits jetzt auf die Einhaltung von Menschenrechten und Umweltschutz in ihren Lieferketten achten, einen Wettbewerbsnachteil gegenüber jenen, die das nicht tun.

Ein europaweites Lieferkettengesetz würde übrigens nicht nur moralische Ansprüche befriedigen, sondern auch einen der ureigensten Werte der EU fördern – den Wettbewerb. Denn de facto haben Unternehmen, die bereits jetzt auf die Einhaltung von Menschenrechten und Umweltschutz in ihren Lieferketten achten, einen Wettbewerbsnachteil gegenüber jenen, die das nicht tun. Unabhängig vom EU-Vorstoß haben deshalb bereits einige europäische Staaten in Eigenregie vergleichbare nationale Gesetze auf Schiene gebracht. Etwa die Niederlande mit dem „Child Labour Due Diligence Law“, Frankreich mit dem „Loi de vigilance“ oder Großbritannien mit dem „Modern Slavery Act“. Unmittelbar vor der Umsetzung steht Deutschland, dessen „Gesetz über die unternehmerischen Sorgfaltspflichten zur Vermeidung von Menschenrechtsverletzungen in Lieferketten“, kurz Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz (LkS), mit 1. Jänner 2023 in Kraft tritt. Im ersten Schritt gilt es für rund 600 Betriebe mit mehr als 3.000 Beschäftigten. Ein Jahr später wird der Geltungsbereich auf Unternehmen mit mehr als 1.000 Mitarbeitern ausgeweitet, das sind rund 2.900 Betriebe. 

Und Österreich?

In der Alpenrepublik ist man indes noch nicht so weit. Hierzulande stecken Politik und Interessengruppen gerade mitten in der Diskussion zum Lieferkettengesetz. Eine Diskussion, die wenig überraschend von zwei extremen Positionen flankiert wird: Auf der einen Seite stehen jene, die die Maßnahmen der EU-Richtlinie zu hart finden. Für Karlheinz Kopf, Generalsekretär der Wirtschaftskammer Österreich, sind sie in der Praxis nicht umsetzbar: „Wertschöpfungsketten sind extrem komplex. Kein Unternehmen kann diese außerhalb seines unmittelbaren Einflussbereichs kontrollieren oder gar beeinflussen“, so Kopf in einer Aussendung. Am anderen Ende des Spektrums stehen Organisationen wie Arbeiterkammer, Gewerkschaft oder Menschenrechts-NGOs. Sie bemängeln den EU-Vorschlag als zu zahnlos und lückenhaft. Wie meistens wird man sich früher oder später wohl in der Mitte treffen.