Fehr

„Eine Schlüsselressource für das zukünftige Wachstum ist die frühkindliche Bildung“

Gerhard Fehr, angewandter Verhaltensökonom und Delegierter des Verwaltungsrats von FehrAdvice & Partners AG, spricht im Interview über den Fachkräftemangel in Österreich, frühkindliche Förderung als Wachstumschance und die fehlenden Visionen der Politik und Vorfeldorganisationen.

Interview: Stephan Scoppetta

Wie ist es erklärbar, dass wir trotz der nun schon Jahre anhaltenden Krisenstimmung einen immer noch größeren Fachkräftemangel in Österreich verzeichnen?

Aus der Bevölkerungspyramide war bereits seit Jahren ablesbar, dass schon bald die geburtenstarken Jahrgänge in Pension gehen werden und man dafür Ersatz bei den Fachkräften brauchen wird. Nun ist es so weit: Die Babyboomer-Generation geht in Pension, und es fehlt der Nachwuchs. Laut Statistik Austria schrumpft der Anteil der Menschen im Haupterwerbsalter, also jener zwischen 20 und 65 Jahren, an der Gesamtbevölkerung bis 2040 von 61 auf 55 %. Der Anteil der über 65-Jährigen steigt dafür von 20 auf 26 %.

Aber warum schlägt dieses Thema gerade jetzt so stark auf die Wirtschaft durch?

Ein Brandbeschleuniger war hier sicher die Corona-Krise. Viele Fachkräfte – zum Beispiel in der Pflege, aber auch der heimischen Industrie – kamen aus Osteuropa. Diese sind in der Krise in ihre Heimatländer zurückgekehrt, weil sie ihren Familien beistehen wollten, und schließlich in ihren Heimatländern geblieben, denn auch dort sind mittlerweile Fachkräfte rar. So können sie bei ihren Familien sein, der Verdienst ist auch in Osteuropa mittlerweile gut, und die Lebenshaltungskosten sind deutlich niedriger als in Österreich.

Könnte man mit Frauen diesen Fachkräfteschwund in Österreich ausgleichen?

Ab 2024 gehen zwar auch die Frauen erst ab 65 in Pension, dieser Effekt wird den Arbeitskräfteschwund jedoch nur unmerklich kompensieren können. Aber natürlich macht es Sinn, aus dem bestehenden Potenzial zu schöpfen. Dass Frauen auch in technischen Berufen reüssieren können, hat sich mittlerweile bis in den letzten Winkel der Unternehmen herumgesprochen. Beispiele gibt es genug: So war der erste Programmierer im 19. Jahrhundert die Mathematikerin Ada Lovelace. Übrigens befassten sich während des Zweiten Weltkriegs fast ausschließlich Frauen mit dem Programmieren, was dazu führte, dass der Beruf der Softwareentwicklung damals als Frauenberuf galt. Aber auch in anderen technischen Berufen oder am Bau arbeiteten in dieser Phase Frauen. Arbeit gab es auch damals genug – die gesellschaftlichen Konventionen waren jedoch andere und die ökonomischen Notwendigkeiten ebenso.

Wie kann man heute technische Berufe für Frauen wieder deutlich attraktiver machen?

Eine Schlüsselressource für das zukünftige Wachstum ist der Ausbildungsdrang der Menschen. Hier zeigt sich, dass es zwischen Frauen und Männern erhebliche Unterschiede gibt. Der Anteil der ab 15-jährigen Frauen, die lediglich die Pflichtschule absolviert haben, beträgt in Österreich noch immer 33,9 %, bei den Männern hingegen nur 22,3 %. Aus einer aktuellen Studie des AMS geht hervor, dass der Bildungsabschluss eine entscheidende Rolle bei zukünftigen Chancen am Arbeitsmarkt spielt. Pflichtschulabsolventen ohne Lehre sind jene Gruppe, die einerseits die geringsten Lohn- und Gehaltserwartungen in ihrer gesamten Berufslaufbahn hat und andererseits am öftesten und längsten von Arbeitslosigkeit betroffen ist. In Summe handelt es sich um über eine Millionen Menschen, die mit einer besseren Ausbildung nicht nur mehr Einkommen, Sicherheit und Stabilität in ihrem Leben hätten, sondern auch einen wichtigen Beitrag für Wachstum und Wohlstand in unserer Gesellschaft leisten könnten.

Wo müsste man hier ansetzen?

Es zeigt sich, dass gerade in der frühkindlichen Förderung in Österreich die Angebote in den Bundesländern große Unterschiede aufweisen.

So früh wie möglich. Die frühkindliche Bildung ist hier entscheidend. James Heckman, Wirtschaftsnobelpreisträger, hat in vielen seiner Forschungsarbeiten aufgezeigt, dass ein frühes Investment in die Bildung der Kinder nicht nur sehr, sehr hohe positive Returns für diese Menschen mit sich bringt, sondern damit auch den gesamtgesellschaftlichen Wohlstand begünstigt. Gleichzeitig zeigt sich, dass gerade in der frühkindlichen Förderung in Österreich die Angebote in den Bundesländern große Unterschiede aufweisen. Denn mancherorts wird die Kinderbetreuung zu gerne als Almosen für die Familien gesehen und zu wenig als echte Chance für uns als Gesellschaft. Dabei können und müssen auch die gesellschaftlichen Stereotype im MINT-Bereich aufgebrochen werden. Zukünftige Maßnahmen sollten darauf abzielen, Mädchen in MINT zu fördern, indem man unter anderem auch ihr Vertrauen in diesem Bereich stärkt.

Welchen Beitrag kann hier die Politik leisten?

Das Verhältnis zwischen Politik, Administration, Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbänden ist zu sehr historisch belastet und von einem Arbeitsmarkt geprägt, in dem sich Arbeitnehmer, Arbeitgeber und die Verwaltung kritisch gegenüberstanden, da qualifizierte Arbeitskräfte im Überfluss verfügbar waren. Doch heute ist es genau umgekehrt. Die Folge: Die Betriebe werden in ihrem Wachstum gebremst. Unbeachtet bleibt derzeit noch, dass damit auch der gesellschaftliche Wohlstand schleichend sinkt. Wir brauchen also eine gemeinsame Vision, wie wir dieses Problems Herr werden können. Dringend müssen sich hier alle Stakeholder endlich an einen Tisch setzen, eine gemeinsame Vision erarbeiten und sich nicht immer gegenseitig torpedieren.

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FehrAdvice & Partners AG