„Österreich ist in der Bildungs-Steinzeit“

Das heimische Bildungssystem steht in der Kritik. Fachkräfte werden immer mehr zur Mangelware. Projekte wie „Schule im Aufbruch“ zeigen, wie modernes Lernen aussehen kann.

Text: Markus Mittermüller

„Österreich ist in der Bildungs-Steinzeit“

„Der gesamte Lehrplan und die Schulwelt sind völlig überholt. Die Schule ist ein Paralleluniversum, das mit der Wirklichkeit nichts mehr zu tun hat.“

„Der gesamte Lehrplan und die Schulwelt sind völlig überholt. Die Schule ist ein Paralleluniversum, das mit der Wirklichkeit nichts mehr zu tun hat.“ Ernüchternder als das Resümee von Gundi Wentner, Partnerin bei Deloitte Österreich, kann eine Analyse des derzeitigen Schulsystems wohl kaum ausfallen. Die Unternehmensberaterin fasst im „Deloitte Radar“ jährlich die Ergebnisse internationaler Standortstudien zusammen und ergänzt sie um eigene Einschätzungen. In Europa schafft es der heimische Wirtschaftsstandort nur auf Platz elf. Dringender Handlungsbedarf wird vor allem bei der Verfügbarkeit qualifizierter Arbeitskräfte gesehen. Ein Befund, den auch das Beratungsunternehmen EY teilt, das den Fachkräftemangel im österreichischen Mittelstand untersucht hat. Die alarmierenden Zahlen: 83 % der Mittelstandsunternehmen finden keine geeigneten Fachkräfte, und 40 % beklagen daraus resultierend Umsatzeinbußen.

Wirtschaftsstandort in der Krise?

Steuert der Wirtschaftsstandort Österreich hier sehenden Auges in eine Krise, die vom Bildungssystem verursacht wird? Und an welchen Hebeln muss man ansetzen, um das Niveau von Bildung und Ausbildung den Erfordernissen von heute und morgen anzupassen? Wie die Schule von morgen aussehen könnte, darüber haben sich die ehemalige Schulleiterin Margret Rasfeld, der Neurobiologe Gerald Hüther und der Rechtswissenschaftler Stephan Breidenbach Gedanken gemacht. Zusammen haben sie 2012 die Initiative „Schule im Aufbruch“ gegründet, der weltweit schon mehr als 100 Schulen angehören. Diese Schulen sind überzeugt: Die Herausforderungen von morgen kann man nicht mit dem Unterricht wie vor 100 Jahren meistern.

Lehrer wird zum Coach.

Was machen sie anders? Den Schülern werden etwa neue Formate angeboten: Im Lernbüro fungiert der Lehrer als Coach und nicht als Wissensvermittler. Er stellt die Materialien zur Verfügung, ist Lernprozessbegleiter und setzt den Rahmen. Die Schüler gestalten den Unterricht weitestgehend selbst. Wenn die Schüler in der Früh in die Schule kommen, wählen sie selbst, welches Fach sie heute besuchen möchten und auch zu welchem Zeitpunkt sie die Prüfungen schreiben. Einmal pro Woche gibt es einen Projekttag, bei dem die Schüler in zwei bis drei Projekten pro Jahr eigenen Forscherfragen nachgehen. Die Resultate sollen dann möglichst in unterschiedlichen kreativen Formaten gezeigt werden. Daneben gibt es Werkstätten. Dort lernen die Schüler Informatik, kreatives Schreiben, Fotografie oder Qigong. Sie arbeiten mit Holz oder pflanzen im Garten Gemüse an.

„Verantwortung“ als Schulfach.

Damit die Schüler für die Welt von morgen gewappnet sind, heißen die beiden wichtigsten Fächer „Verantwortung“ und „Herausforderung“. Beim Schulfach „Verantwortung“ suchen sich alle eine Aufgabe im Gemeinwesen: Sie gehen in Kindergärten, engagieren sich ökologisch oder kreieren ein Theaterstück mit Kindern. Ab der 8. Klasse verlassen die Schüler für das Fach „Herausforderung“ drei Wochen die Schule und meistern eine Herausforderung – dabei müssen sie mit 150 Euro auskommen. Die Schüler lernen den Umgang mit Unsicherheit, Risikobereitschaft, Konflikte in Gruppen zu lösen, zu scheitern und zu entscheiden. „Das ist ein echtes Vorzeigeprojekt“, sagt Wentner. Woran es in Österreich hakt, liegt für sie auf der Hand: „Durch die frühe Trennung der Kinder nach der Volksschule erfolgt eine soziale Auslese. Die Neuen Mittelschulen sind völlig überfordert.“ Die Konsequenz davon ist, dass viele Jugendliche einen zu niedrigen Bildungsabschluss haben und für eine weitere Berufsausbildung kaum geeignet sind.

Weg von der Routine.

Einen massiven Aufholbedarf bei der Elementarbildung ortet auch Tina Dworschak von der Industriellenvereinigung. Die Expertin sieht die Lösung in einem „Grundbildungsnachweis“, den Jugendliche mit 14 Jahren erhalten sollten. Dazu sei es notwendig, das gesamte Bildungssystem für 4- bis 14-Jährige neu aufzustellen – zum Beispiel mit zwei verpflichtenden Kindergartenjahren. „Wir müssen Wert auf die persönliche und charakterliche Bildung legen und die Inhalte des Unterrichts neu definieren. Das heißt: weg von den Routineaufgaben, hin zu persönlichen, komplexen Aufgaben. Denn das unterscheidet uns von Maschinen“, so Dworschak.

Lernen wird sexy.

„Lernen muss am Smartphone passieren, sexy und einfach wie WhatsApp sein.“ Schon vor elf Jahren war Dieter Duftner, Gründer und Geschäftsführer des Institute of Microtraining, vom Megatrend mobiles Lernen überzeugt. „Unser Leben spielt sich in unserer Hosentasche ab. Daher ist es notwendig, das Smartphone auch in den Unterricht zu integrieren“, fordert der Bildungs- und Digitalisierungsexperte. Diese neue Form des Lernens ändert nicht nur die Rolle der Lehrer, sondern auch jene der Schüler. „Die Lehrer werden zu Coaches, die den Content validieren, und sind nicht mehr diejenigen, die das Wissen für sich gepachtet haben. Und die Schüler werden zu Co-Autoren, die ihren Content selbst erstellen“, so Duftner. Wie das in der Praxis aussehen könnte? Duftner erinnert hier an das Schreiben von Schwindelzetteln, bei dem die Schüler selbst die relevantesten Inhalte herausfiltern. Analog dazu könnten die Jugendlichen zu einem Thema selbst Bilder, Fact Sheets und Videos produzieren und sich so den Content selbst erarbeiten. „Österreich ist hier noch in der Steinzeit“, kritisiert Duftner. Und wie sieht es international aus?

Aufwertung der Pädagogen.

Finnland, regelmäßiger Sieger bei den PISA-Tests, wird oft als Vorbild in Bezug auf sein Bildungswesen genannt. Hier steht das soziale Miteinander im Vordergrund, individuelle Fähigkeiten werden gefördert, und die Schüler sollen voneinander lernen. Alle Schüler werden bis zur 9. Klasse zusammen unterrichtet, und der Lehrerberuf genießt in Finnland – im Gegensatz zu Österreich – hohes Ansehen, vergleichbar mit dem von Ärzten und Juristen. „Auch Singapur und Kanada sind Vorbilder, was die Stellung des pädagogischen Berufs betrifft“, weiß Dworschak. Dass eine Reform des Bildungssystems besser heute als morgen passieren muss, darüber sind sich alle Experten einig. Dazu Wentner: „Wir brauchen jedes Talent und jedes Kind und müssen unsere Kinder mit den geeigneten Grundkompetenzen befähigen, immer wieder Neues zu lernen.