Arbeit im Wandel - Wie die Digitalisierung Organisationen verändert
















Die Digitalisierung verursacht einen kontinuierlichen Anpassungsdruck in Unternehmen. Neue Organisationsformen und Arbeitsmodelle könnten dem gerecht werden. Doch der Wandel braucht seine Zeit.

Leo Widrich fühlt sich sichtlich wohl bei seinem Vortrag. In Jeans und T-Shirt wuselt er über die Bühne, lacht viel, macht auch mal einen Ausflug durch das Publikum. „Wer von euch kennt Buffer?“, fragt er in die Menge. Die in die Höhe gehobenen Hände kommentiert er mit einem lässigen „Cool!“. Widrich verkörpert das vertraute Bild des Silicon-Valley-Entrepeneurs – jung, dynamisch, erfolgreich und mit dem Selbstbewusstsein eines Menschen ausgestattet, der jederzeit bereit scheint, die Welt aus den Angeln zu heben. Auf der TNW (The Next Web) Conference Europe, die Ende Mai in Amsterdam stattfand, sprach der erst 25-jährige Widrich darüber, wie man Unternehmenskultur aufbaut. Das ist sein Thema. Immerhin ist der in Melk geborene Widrich Mitgründer und Chief Operating Officer von Buffer. Das viel beachtete IT-Unternehmen bietet eine Software an, mit der man seine Beiträge in sozialen Netzwerken zeitversetzt veröffentlichen kann. Rund 50.000 Kunden und 100 Mitarbeiter zählt das 2010 gegründete Unternehmen bereits und macht damit USD 10 Mio. Jahresumsatz. Vor zweieinhalb Jahren waren es noch 24.000 Kunden, 20 Mitarbeiter und USD 4 Mio. Umsatz. Doch rasant wachsende Internet-Unternehmen gibt es viele. Was Buffer so interessant macht, ist seine Unternehmenskultur, die radikal mit ziemlich allen herkömmlichen Managementregeln bricht. So sind die Mitarbeiter über 20 verschiedene Länder in allen Kontinenten verteilt. Ein zentrales Büro für alle gibt es nicht.

Maximale Transparenz. Die Kommunikation erfolgt über Skype-Videokonferenzen, ein paar Mal im Jahr treffen sich alle Mitarbeiter für ein paar Tage an einem „exotischen Ort“, zum Beispiel in Thailand oder Hawaii. Aufgrund der unterschiedlichen Zeitzonen, in denen die Mitarbeiter leben, sind zentral geregelte Arbeitszeiten sinnlos. Jeder arbeitet dann, wann er will. Neben dieser Eigenverantwortung wird auch Transparenz bei Buffer großgeschrieben. So sind sämtliche Gehälter öffentlich einsehbar. Mit einem Jahressalär von USD 185.000 ist Widrich der zweitbeste Verdiener im Unternehmen. Das geringste Einkommen beträgt aktuell USD 59.000. Das Einkommen der Mitarbeiter errechnet sich nach einer Formel, in die Erfahrung, Dauer der Anstellung, aber auch der Ort, an dem gearbeitet wird, einfließen. Letzteres hat Buffer viel Unverständnis eingebracht. Es rechtfertigt sich aber dadurch, dass die Lebenskosten in unterschiedlichen Orten stark voneinander abweichen. Auch der gesamte innerbetriebliche E-Mail-Verkehr jedes Mitarbeiters ist für jeden Kollegen einsehbar.
 
Sozioökonomische Entwicklungstendenzen.
Buffer gilt vielen Beobachtern als ideale Verkörperung eines neuen Unternehmenstyps, der wesentlich besser als klassische Organisationsformen für den großen, durch die Digitalisierung eingeläuteten Wandel gerüstet ist. Angesichts neuer Technologien, wachsender Komplexität der Prozesse und immer größerer Datenmengen, die es – am besten in Echtzeit – zu analysieren gilt, scheinen hierarchische Unternehmensstrukturen, fixe Arbeitszeiten und das klassische Büro nicht mehr zeitgemäß. Moderne Unternehmen müssen demokratisch, dezentral und netzwerkartig sein. So lauten zumindest die Thesen der Protagonisten eines neuen Unternehmensbildes. Doch wollen Mitarbeiter überhaupt so viele Freiheiten? Bei Buffer bewerben sich monatlich bis zu 2.000 Menschen. „Es ist schwieriger reinzukommen als in Harvard“, witzelt Widrich. Dennoch ist keineswegs klar, ob die Experimentierfreudigkeit eines Internet-Start-ups auch in Unternehmen klassischer Branchen funktionieren kann.
 
Wechselseitige Beziehung. Erfordert die Digitalisierung wirklich qualitativ neuartige Organisationsformen? Was bedeutet das für die Arbeitnehmer? Und überwiegen die Chancen oder die Risiken? Für Martin Kuhlmann, Koordinator des Forschungsschwerpunkts „Arbeit im Wandel“ am Soziologischen Forschungsinstitut (SOFI) der Georg-August-Universität Göttingen gibt es keine allgemeingültigen Antworten auf diese Fragen. „Um das Thema zu verstehen, muss man sich von der Vorstellung verabschieden, dass man es auf ein paar Kernelemente herunterbrechen kann.“ Klar ist für den Wissenschaftler zwar, dass es einen aktuellen Veränderungsprozess von Wirtschaft und Arbeitswelt gibt. Doch sei dieser keineswegs so zu verstehen, dass Technologien direkt und unaufhaltsam neue Organisationskonzepte verursachen. „Es gibt in jeder Gesellschaft sozioökonomische Entwicklungen, die durch die Eigenschaften neuer Technologien lediglich beschleunigt werden“, meint er. „Umgekehrt wirken bestehende Organisationsleitbilder auf die technische Entwicklung zurück.“ Das zeigt sich etwa daran, dass unterschiedliche Gesellschaften unterschiedlich mit neuen Technologien umgehen. So sind Roboter in der Altenpflege in Japan völlig selbstverständlich (was deren Entwicklung gleichzeitig vorantreibt), in Europa werden sie meist mit großem Argwohn betrachtet. Ein weiteres Beispiel ist die Einführung computergesteuerter Werkzeugmaschinen. Auf der einen Seite brachte sie eine Umstrukturierung der Werkstätten und Produktionsorganisation mit sich. So wurden etwa die Programmierung und die Steuerung der Arbeitsvorbereitung häufig zentralisiert, was zur Folge hatte, dass Fachkräfte und deren Erfahrungen an Bedeutung verloren. Auf der anderen Seite wanderte ein Teil dieses Personals – und somit auch das Fachwissen – von den Fertigungsabteilungen in die Planungsabteilungen. Dadurch wurde die konkrete Art und Weise, wie die neuen Maschinen genutzt wurden, wesentlich geprägt. Auch auf die Ausbildungsanforderungen hatte das mittelfristig Einfluss. Unter anderem sind in Produktionsunternehmen heute gut ausgebildete Fachkräfte gefragt, die direkt an der Maschine in Programme eingreifen können.
 
Experiment misslungen. Neue Organisationsformen gibt es – zumindest in der Theorie – in verschiedenen Varianten und unterschiedlicher Radikalität. Ihnen allen gemeinsam ist ein Abbau von Hierarchien, mehr Selbstverantwortung, Transparenz und Agilität. So hat Daimler-Chef Dieter Zetsche kürzlich angekündigt, dass er sein Unternehmen in eine „Schwarmorganisation“ umstrukturieren will. Damit ist gemeint, dass bestimmte Mitarbeiter autonom für einzelne Themen verantwortlich sind und außerhalb bestehender Abteilungsgrenzen agieren werden. Innerhalb eines Jahres soll ein Fünftel aller Mitarbeiter auf diese Arbeitsform umgestellt werden. Das Wiener Unternehmen Tele Haase hat bereits 2013 mit einer ähnlichen Organisationsänderung begonnen. Auch der neue Campus der Erste Group am Zentralbahnhof hat Prinzipien aus dem Fundus der neuen Organisationswelt implementiert. So haben die Führungskräfte dort keine eigenen Büros mehr. Alle Mitarbeiter sitzen in Großraumbüros. „Open Space“ nennt sich das auf Neudeutsch und ist eigentlich gar nicht wirklich neu. Die extremste Ausprägung neuer Unternehmenstypen nennt sich „Holokratie“ – keine Hierarchien, kein Management, das Unternehmen als sich selbst organisierender Organismus. Nicht immer geht das gut. So hat das eingangs erwähnte Buffer schlechte Erfahrungen mit dem Abbau von Managementstrukturen gemacht. „Neue Mitarbeiter waren verloren in der Organisation, ihnen ging ein Mentor und Feedback von oben ab“, nennt Leo Widrich zwei Gründe für den Misserfolg des Experiments. Ein weiterer: „Es kam öfter vor, dass zwei Teams am selben Projekt gearbeitet haben, ohne voneinander zu wissen.“ Deshalb hat Buffer nach einem halben Jahr wieder Führungsebenen eingezogen.
 
Mix der Beschäftigungsverhältnisse. Radikal neue Organisationsformen seien zwar noch kein Massenphänomen, meint Michael Bartz, Professor am Department Business der IMC Fachhochschule Krems. „Aber scharfe Unternehmensgrenzen lösen sich zunehmend auf“, diagnostiziert er. „Lieferanten werden immer tiefer ins eigene Unternehmen integriert, eigenes Personal mit dem eines Partners ausgetauscht, Kunden an der Produktentwicklung beteiligt.“ Daneben entstehen Kooperationsformen wie Cluster, die vor allem KMU die Möglichkeit geben, gemeinsam stärker am Markt präsent zu sein. Parallel dazu steigt die Vielfalt an Beschäftigungsverhältnissen in den Unternehmen. So gibt es neben Vollzeit- und Teilzeitangestellten immer öfter auch Zeitarbeiter, Leiharbeiter, Freelancer, Praktikanten, pensionierte Mitarbeiter, die als Berater weiter ins Unternehmen eingebunden bleiben, oder ehemalige Mitarbeiter, die als EPU weiter für den ehemaligen Arbeitgeber tätig sind.
 
Kontrollverlust durch neue Freiheiten. Für die Unternehmensführung ist das eine ungewohnte Situation, weil die Mitarbeiter nun weniger leicht zu steuern sind als früher. „Es braucht eine neue Art des Führens, ein Führen auf Distanz“, glaubt Bartz. „Alle Beteiligten müssen erst lernen, mit den neuen Freiheiten umzugehen.“ Firmenchefs, die dem alten Paradigma der Kontrolle (ständig anwesender Mitarbeiter) anhängen, tun sich naturgemäß schwerer, die Chancen des Wandels zu erkennen. Ein interessanter Aspekt ist, dass manche neue Technologien sich heute zuerst im Privatbereich etablieren und erst später im Unternehmensumfeld Einzug halten. Wer daheim beispielsweise einen modernen Computer, ein stabiles Netzwerk und perfekte Synchronisation aller seiner mobilen Geräte gewohnt ist, wünscht sich das verständlicherweise auch in der Arbeit. Diese scheinbar trivialen Möglichkeiten können den Arbeitsalltag nachhaltig verändern. Und nicht bloß im Büro. „Auch in der klassischen Produktion ist denkbar, dass sich Teams ihren Schichtplan mittels Online-Tools selbst einteilen“, sagt Bartz. „Oder dass Mitarbeiter mit einem mobilen Device die Programmierung einer CNC-Maschine bzw. Werkzeugmaschine von zu Hause aus erledigen.“ Das setzt natürlich Verständnis und Einverständnis der Unternehmensführung voraus.
 
Kurzsichtiges Arbeitsrecht. Seit langem weisen Arbeitsmediziner darauf hin, dass Stress, Überanstrengung, aber auch monotone Arbeiten zu latenter Unzufriedenheit und in der Folge zu überproportionalen krankheitsbedingten Ausfällen führen können. Abhilfe schaffen könnten hier zum Beispiel flexible Arbeitszeiten, Heimarbeit oder Vertrauensarbeit. Leider sind solche Modelle der Arbeitsorganisation nur sehr eingeschränkt mit dem österreichischen Arbeitsrecht kompatibel. Dazu schrieb Philipp Maier, Arbeitsrechtsexperte bei Baker & McKenzie, kürzlich in einem Kommentar in einer Tageszeitung: „So hat der Oberste Gerichtshof bereits 2008 Arbeit-auf-Abruf-Modellen einen Riegel vorgeschoben. Vertrauensarbeitszeit ist überhaupt verboten – hierbei handelt es sich um ein Modell der Arbeitsorganisation, bei dem die Erledigung vereinbarter Aufgaben im Vordergrund steht, nicht die zeitliche Präsenz des Arbeitnehmers. Wochenendarbeit ist außerhalb gewisser Branchen nur in speziellen Ausnahmefällen (z. B. dringende Reinigungsarbeiten) zulässig. Dazu gesellen sich die ‚heiligen Kühe‘ des österreichischen Arbeitszeitrechts, nämlich die täglichen und wöchentlichen Höchstarbeitsgrenzen.“
 
Macht es der Nachbar besser? Deutschland ist hier mit dem „Flexi II“-Gesetz schon mindestens einen Schritt weiter als Österreich. Das Gesetz schafft die Möglichkeit, dass Arbeitgeber und Arbeitnehmer sogenannte „Lebensarbeitszeitkonten“ vereinbaren. Das sind Konten, in die Arbeitsleistung als Geldwert eingezahlt und zu einem späteren Zeitpunkt wieder entnommen wird. Wer beispielsweise einige Jahre viel arbeitet, viele Überstunden macht und viel verdient, füllt sein Konto auf. In einem späteren Lebensabschnitt will er oder sie vielleicht ein paar Jahre weniger arbeiten und finanziert sich dann entsprechend aus dem Konto. Nicht nur viele Unternehmen, auch die Mitarbeiter selbst wünschen sich flexibleres Arbeiten. So hat das Beratungsunternehmen HMP Consulting unlängst die Studie „Arbeitsweisen im Wandel“ präsentiert. Ein Resultat: Flexibilität ist den Mitarbeitern wichtiger als das Einkommen. 85 % der Befragten geben z. B. an, dass es ihnen wichtiger ist, über Ziele geführt zu werden, als eine Gehaltserhöhung zu bekommen. Für 70 % der Befragten steigt die Lebensqualität durch neue Arbeitsformen. Und 64 % meinen, dass sie eine individuelle, freie Zeiteinteilung ermöglicht. Dass die Kombination aus Erwerbsarbeit mit individuellen Bedürfnissen an Freizeit, Familienleben oder Selbstverwirklichung möglich ist, wird heute immer deutlicher. Durch Digitalisierung und moderne Technologien erwachsen Unternehmen neue Handlungsspielräume. Gleichzeitig brechen alte weg. Doch wenn man es richtig angeht, können alle Seiten profitieren.

Text: Raimund Lang


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